Sven Dolinski, was hat sich Ihrer Ansicht nach im Theater in Bezug auf Diversität in den vergangenen Jahren alles getan?
Sehr viel und sehr wenig. Einerseits haben viele Theaterleiter*innen inzwischen verstanden, dass Diversität kein politisch-sozialer Auftrag ist, sondern ganz einfach eine reale gesellschaftliche Entwicklung. Und ein Theater, das diese Diversität inhaltlich und strukturell abbildet, hat die besseren Voraussetzungen, seine Funktion als kritischer Spiegel und Impulsgeber für sein Publikum auch weiterhin zu erfüllen. Diversität hilft dem Theater also, seine eigene Relevanz zu behaupten. Dabei erfahren viele Theater, die sich diesem Prozess öffnen, wie sich die Konnotation von Diversität sehr schnell und auf ganz wunderbare Weise wandeln kann, sobald der abstrakte Begriff menschliche Gestalt annimmt: Die Angst vor einem Berg neuer Herausforderungen, der bewältigt werden muss, weicht schnell der Neugier auf ungekannte Hintergründe und Impulse, an denen die künstlerische Arbeit ganz selbstständig in neue Richtungen wächst. Andererseits sollten wir uns nichts vormachen: Die internen Strukturen deutscher Theater und ihre Arbeitsgepflogenheiten stehen nicht nur oft im Widerspruch zu deren inhaltlicher und künstlerischer Positionierung in der Gesellschaft – sie sind auch dem Prozess steigender Diversität an vielen Stellen nicht gewachsen. Von der tatsächlichen Inklusion neuer künstlerischer Biografien, Ausdrucksweisen und inhaltlicher Standpunkte in Ensembles und Spielplänen sind die meisten Theater trotz viel investierter Energie und vielversprechender Entwicklungen noch weit entfernt.
Wie erreicht man denn mehr Diversität auf und hinter den Bühnen?
Die allgemeine Forderung nach mehr Diversität ist ja absolut richtig, aber ich glaube, wir müssen sehr aufpassen, dass uns die Ungeduld nicht überwältigt. Wenn wir Diversität nicht als eine Modewelle, sondern als eine nachhaltige Veränderung der Kulturlandschaft anstreben, dann sollten wir dieser Entwicklung auch die notwendige Zeit geben, tiefe Wurzeln zu schlagen. Es macht keinen Sinn, mehr Diversität zu wollen, wenn wir die laufenden Erfahrungen mit neuen Einflüssen noch gar nicht produktiv verarbeitet haben. Keinem Theater ist geholfen, wenn es sein Ensemble zu 50 Prozent internationalisiert, aber noch gar nicht die inhaltlichen Formate entwickelt hat, um diesem internationalen Ensemble auch den Spiel- und Ausdrucksraum zu geben, den es braucht. Schlimmstenfalls bedeutet ein Mehr an Diversität dann nur ein Mehr an Potenzial, das sich in einem völlig unveränderten Theaterbetrieb überhaupt nicht entfalten kann. Damit so etwas nicht passiert, ist es vorrangig, Diversität in konkreten künstlerischen Projekten zu verwirklichen und so die Neugier, das Interesse und die Abenteuerlust der Theater(-Leiter*innen) zu kitzeln, von der letztendlich alle künstlerischen Entwicklungen auf der Bühne ihren Ausgang nehmen – die Diversität eben auch.
Inwiefern können künstlerische Hochschulen einen Beitrag dazu leisten?
Ich erlebe die Situation gerade als einmalig und aufregend, weil künstlerische Hochschulen und Theater gleichermaßen unerfahren mit der rasanten Entwicklung von Diversität konfrontiert sind. Ich habe mich schon als Student manchmal gefragt, wie eine Hochschule für Schauspielkunst eigentlich dem Forschungsauftrag gerecht wird, der diesem Status ja inhärent ist – jetzt gerade materialisiert sich dieser Forschungsauftrag für mich zum ersten Mal ganz konkret: Hochschulen haben jetzt die einmalige Möglichkeit (und vielleicht auch die Pflicht?), unabhängig von den Strukturen des Theaters, von seinem Produktionsdruck und seiner Abhängigkeit von Auslastungszahlen neue und inklusive Arbeitsweisen und Formate zu erforschen. Das könnte zu einem neuen Selbstverständnis der Hochschulen führen: Über die bloße Produktionsstätte gut ausgebildeter Spieler*innen hinaus zu einem Ort der künstlerischen Grundlagenforschung. Nun bedeutet Forschung aber, dass experimentiert werden muss, und Experiment beinhaltet nicht nur Erfolg, sondern vor allem auch regelmäßiges Scheitern. Den Studierenden und Lehrenden dieses Scheitern an definierten, geschützten Stellen innerhalb des Kurrikulums explizit und gefahrlos zu ermöglichen, ist natürliche Voraussetzung dafür, dass künstlerische Hochschulen wieder Orte der Forschung werden können. Der Mut dazu wird mit Absolvent*innen belohnt werden, die nicht nur mit Fertigkeiten, sondern auch mit der Erfahrung an die Theater kommen, dass Diversität eine selbstverständliche Herausforderung des künstlerischen Alltags ist.
Mit welchen Herausforderungen haben internationale Studierende an künstlerischen Hochschulen umzugehen, und wie können diese abgebaut werden?
Auf der einen Seite haben internationale Studierende an der HfS dieselben Probleme wie an anderen Hochschulen: die Organisation des Alltags in einer neuen Umgebung und einer fremdem Sprache, die Reibung an einer anderen Kultur, der Kampf mit Vorurteilen und offenen Ressentiments, der Übergang in eine vielleicht ungewohnte Lehr- und Lernkultur, etc. Die Studierenden dabei sinnvoll zu unterstützen, ist für mich vor allem eine Frage von Ressourcen und der Bereitschaft, ihnen intensiv zuzuhören, um individuelle Schwierigkeiten zu erkennen. Auf der anderen Seite gibt es eine spezielle Herausforderung, die sich darin begründet, dass das Studium darstellender Künste mehr als vieler anderer Studienfächer ein persönlichkeitsbildender Prozess ist. Die Studierenden entwickeln notwendigerweise eine neue Selbstwahrnehmung, was in der Folge natürlich ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen tangiert. Dieser Prozess ist in einer noch unerforschten und vielleicht etwas unheimlichen Kultur umso herausfordernder. Um die Studierenden hier zu unterstützen, führt kein Weg vorbei an einer immer besseren Inklusion: Internationale Mitstudierende in einen Studiengang wie Regie oder Schauspiel aufzunehmen, der sehr am deutschen Kulturraum orientiert ist, scheint mir sinnlos, wenn wir dann unverändert weiter die gleiche Ausbildung anbieten, die sich nun mal lange Zeit an nationalen Studierenden orientiert hat. Die HfS wird sich symbiotisch mit ihren internationalen Studierenden im Sinne der Herausforderungen eines diverseren deutschen Kulturverständnisses entwickeln müssen.
Die Hochschule wird in Zukunft viel von ihren Studierenden lernen. Und dieses bidirektionale Lernen ist in vielen Bereichen eine sehr neue Erfahrung für die HfS. Die hohe Qualität der Ausbildung beizubehalten, während man sich neuen Impulsen öffnet, ist keine kleine Aufgabe. Aber wenn sie gelingt, werden wir nicht nur das volle Potential aller Studierenden, sondern auch das volle Potential aller Lehrenden in diesem Prozess zur Geltung bringen können. Keine schlechte Aussicht, wie ich finde.
Konkret heißt das: Förderung, Unterstützung und Mediation, wo es nötig ist – Bereitschaft zur gemeinsamen Veränderung, wo es möglich ist.
An der HfS Ernst Busch haben wir ein Drittel internationale Studierende. Wo muss eine diversitätssensible Hochschularbeit der HfS ansetzen?
Am Menschen. Und zwar an jedem einzelnen. Wenn wir alle Studierende vorrangig als individuelle künstlerische Persönlichkeiten wahrnehmen, die es zu entwickeln gilt, stehen wir ganz plötzlich einer viel heterogeneren Gruppe gegenüber, als wenn wir uns ausschließlich auf die sie verbindenen Interessen und Entwicklungsbedürfnisse fokussieren. Je individueller unser Blick und unser Lehransatz sind, desto weniger fallen die vermeintlich besonderen Anforderungen Studierender mit diverseren und internationalen Biografien und Hintergründen ins Gewicht. Das Ziel muss ja sein, jeden einzelnen Menschen, der das Studium an der HfS antritt, bestmöglich auszubilden; deshalb schlage ich vor, die Ausbildung aller Studierenden von deren individueller Perspektive her zu denken. Mit diesem Bewusstsein allein ist natürlich noch nichts Praktisches geleistet, aber es ist die erste Voraussetzung für einen inklusiven Ausbildungsansatz.
Welche Schwerpunkte werden Sie in Ihrer Arbeit an der HfS Ernst Busch setzen?
Zum einen will ich die schon gesammelten Erfahrungen der internationalen Studierenden und ihrer Lehrenden evaluieren – nicht nur, um zu sehen, wo akut Unterstützung geleistet werden muss, sondern auch, um bewerten zu können, wie gut die HfS ihren Diversitäts- und Internationalisierungsanspruch bisher in tatsächliche Ausbildungserfolge umsetzen konnte. Was funktioniert? Wo muss nachgebessert oder ganz neu gedacht werden? Zum anderen will ich die internationale Studierendenschaft studiengangsübergreifend besser vernetzen, um nach spezifischen Interessensfeldern und künstlerischem Kooperationspotenzial zu suchen. Es soll in den Fokus rücken, dass die Hochschule mit ihren internationalen Studierenden einen enormen künstlerischen Schatz in sich trägt, der nach meinem Eindruck noch nicht annähernd genug ausgeschöpft wird.
Welche Aspekte Ihres persönlichen Entwicklungsweges werden Ihnen bei der Förderung internationaler Studierender helfen?
Ich habe mein ganzes Bühnenleben lang nicht nur das Glück gehabt, immer wieder Teil internationaler Koproduktionen und Festivals zu sein, sondern auch durch die kontinuierliche Arbeit mit jungen theaterbegeisterten Menschen erfahren, wie wichtig es ist, persönliche Bedürfnisse und Ängste ständig gegen die professionellen Ansprüche künstlerischer Arbeit abzuwägen. Vielleicht habe ich nicht gelernt, konfliktfrei zu arbeiten, aber ich habe sicher gelernt, Konflikte in der Arbeit möglichst produktiv zu gestalten.
Was ist Ihr größter Wunsch in Bezug auf Ihre neue Aufgabe an der HfS Ernst Busch?
Auf allen Seiten Neugier, Risikobereitschaft und Mut zu Veränderungen.